03.03.2018–06.01.2019
Auch Biel wurde 1918 nicht von der Spanischen Grippe verschont. Die hundert Jahre alten Dokumente über diese Zeit finden heute ein Echo in den aktuellen Nachrichten.
Insgesamt steckten sich in Biel bei den drei Wellen 5510 Menschen an, 364 starben. Dies entsprach ca. 1 % der damaligen Bevölkerung. Damit lag die Todesrate ca. 40 % höher als im Schweizer Durchschnitt.
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Weit mehr Tote als sämtliche Artillerien und Maschinengewehre verursachte im Jahr 1918 ein neuartiger Virus, der später als H1N1 bezeichnet werden würde und damals als die «Spanischen Grippe» bzw. die «Spanische Lady» bekannt war, da Spanien als erstes Land offiziell davon berichtet hatte. Die schlimmste globale Pandemie in der Geschichte der Menschheit – weltweit erlagen zwischen 50 und 100 Millionen Menschen dem Virus – hing direkt mit dem Kriegsgeschehen zusammen. Die Truppen transportierten den Virus rund um den Globus. Der Virus grassierte aber nicht am schlimmsten unter Soldaten, sondern innerhalb der, in unter hygienisch prekären Bedingungen wohnenden und von Unterernährung geplagten, Unterschicht.
Die erste Grippewelle erreichte die Region im Juli 1918. Bei der Uhrenfabrik Longines in Saint-Imier fielen an einem Tag bis zu 300 Arbeiterinnen und Arbeiter aus. In Biel steckten sich bei der ersten Welle über 1000 Menschen an. Täglich starben Dutzende
einen qualvollen Erstickungstod. Es traf erstaunlicherweise insbesondere Männer zwischen 20 und 50 Jahren.
Mit improvisierten Lazaretten (z.B. im Plänke-Schulhaus) und einem Verbot öffentlicher Versammlungen (Theater, Vereinsanlässe, Gottesdienste usw.) versuchten die Behörden die Ausbreitung einzudämmen. Im September schien das Schlimmste vorbei zu sein. Der Schulbetrieb wurde in den «desinfizierten» Schulhäusern wiederaufgenommen. Kinder steckten sich dennoch an und eine zweite, noch heftigere Welle ergriff Biel im Oktober und November. Ärzte waren abermals überfordert, da sie noch keine Kenntnisse über Viren hatten und von einer bakteriellen Krankheit ausgingen. Entsprechend der allgemeinen Verunsicherung priesen Inserate angebliche Wundermittel gegen die Grippe an.
Der dritte Ausbruch im Jahr 1919 erwies sich als weniger verheerend. Insgesamt steckten sich in Biel bei den drei Wellen 5510 Menschen an, 364 starben. Dies entsprach ca. 1% der damaligen Bevölkerung. Damit lag die Todesrate ca. 40% höher als im Schweizer Durchschnitt.
Audioaufnahme: «Es war eine sehr traurige Zeit.»
Marie Burgermeister, 40 Jahre im Grandhotel Bielerhof in Biel tätig, erinnerte sich an den Tod eines jungen Offiziers, der nach sechs Tagen Bettlägerigkeit in Zimmer 32 der Spanischen Grippe erlag. Burgermeister brachte ihm regelmässig Tee und Blumen aus dem Innenhof des Hotels. Zur Zeit der Epidemie sei es schwierig gewesen, einen Arzt zu finden, erzählt sie.
Ein Lebensabschnitt: "Gottlob bekam niemand die Grippe und ich glaube der Wein und Schnaps war schuld daran, dass wir alle heil davon kamen."
Elisabeth (Elise) Lüthy heiratete am 3. August 1918 Oswald Linder. Zu diesem Anlass musste das Brautpaar eine Genehmigung der Stadt Biel einholen, da während der Spanischen Grippeepidemie öffentliche Versammlungen verboten waren. Aber «dank des Weins und des Schnapses» hätten sich die Gäste während der Feierlichkeiten glücklicherweise nicht angesteckt, erzählt Lüthy in ihren Memoiren. Für die junge Frau bedeutet die Heirat ihre Entlassung aus der Telefonzentrale, in der damals nur ledige Mädchen beschäftigt wurden. Aber die tödliche Grippeepidemie verursachte einen Arbeitskräftemangel und Lüthy wurde zurückgerufen, um eine 18 Jahre junge Kollegin zu ersetzen, die nach 3 Tagen Krankheit verstorben war. Elisabeth Lüthy wurde «dank» der Spanischen Grippe so zur ersten verheiratete Telefonistin in der Stadt Biel.
«Im Sommer 1918 wütete die Grippe. Eigentlich hätten wir keine feierliche Hochzeit halten dürfen, wir mussten von der Stadt die Erlaubnis haben dazu und auf unser Risiko. Gottlob bekam niemand die Grippe und ich glaube der Wein und Schnaps war schuld daran, dass wir alle heil davon kamen. Es war eine furchtbare Zeit, die Menschen starben wie Fliegen dahin und ganz besonders die Gesündesten rafften dahin.» (Schriftliche Aufzeichnungen von Elisabeth Lüthy)
Textauszüge aus dem Begleitheft zur Ausstellung "1918 Krieg und Frieden" © NMB, 2018
Am 11. November 1918 läuteten in Biel die Kirchglocken nach vier Jahren Krieg eine neue Ära ein. Über der Friedensinsel Schweiz zogen jedoch am Tag des Waffenstillstandes schwarze Wolken auf. Es drohte die grösste innenpolitische Krise seit 1848: Die Gesellschaft war gespalten, der landesweite Generalstreik wurde ausgerufen, eine Gewalteskalation mit unbekanntem Ausgang bahnte sich an. Hoffnungen auf soziale Veränderungen und Ängste vor einer Revolution nach ausländischem Vorbild trieben die Menschen auf die Strasse.
Die Ausstellung 1918: Krieg und Frieden zeigt den Generalstreik von 1918 als ein Schlüsselereignis der Schweizer Geschichte aus internationalem und regionalem Blickwinkel. Krieg und Frieden prägten nicht nur das Weltgeschehen im Jahr 1918, sondern auch das Leben der Menschen in Biel, im Seeland und im Berner Jura. Vorgänge auf den europäischen Schlachtfeldern und in der neutralen Schweiz bedingten sich gegenseitig. Kriegsgüter aus der Uhrenindustrie, pazifistische und revolutionäre Ideen oder die Spanische Grippe machten an der Grenze nicht Halt. Ebenso wenig vom kriegerischen Europa trennen liessen sich die zunehmenden sozialen Spannungen in der Region wie Streiks, Hungerdemonstrationen und Einsätze von Bürgerwehren und Armee, die in den Generalstreik vom November 1918 mündeten.
Publikationen
Patrick Auderset, Florian Eitel, Marc Gigase, Daniel Krämer, Matthieu Leimgruber, Malik Mazbouri, Marc Perrenoud, François Vallotton (éd.), La Grève générale de 1918, Crises, conflits, controverses, Revue Traverse | Cahier de l'AEHMO, CHRONOS | Editions d'En Bas, 2018
Julien Steiner, La Grève générale de 1918 à Bienne et dans le Jura Bernois,
Intervalles - Revue culturelle du Jura bernois et de Bienne n°111, 2018
François Wavre, Chris Gautschi, Adieu Vieille Europe, 2018